Erwartungshaltung senken: Warum Kinder nicht mehr singen

Erwartungshaltung senken: Warum Kinder nicht mehr singen

Singende Kinder klingen nicht immer gut oder treffen jeden Ton. Und das ist auch gut so!

Es gibt kaum etwas, das mich glücklicher macht, als singende Kinder. Wenn Kinder spontan, ungehemmt und selbstvergessen im Spiel singen, dabei eigene Melodien erfinden und Lieder dichten, geht mir das Herz auf.
In diesen Momenten passiert in der kindlichen Entwicklung so viel: Es werden neuronale Gehirnverbindungen angelegt und gefestigt, die Sprache entwickelt sich, die Kinder trainieren die Mundmotorik, sie finden ein Ventil für Emotionen und drücken ihr Seelenleben aus, die Atmung wird verbessert und dadurch auch das Immunsystem gestärkt.
Dass singende Kinder auch in der Außendarstellung eine positive Wirkung haben, wird längst in verschiedenen Bereichen genutzt, z.B. in der Zusammenarbeit von Senioreneinrichtungen und Kindergärten, aber auch zu Marketingzwecken.
Leider hat man dabei nicht immer das Wohl des Kindes im Blick, sondern auch Quoten und Verkaufszahlen.

Castingshows und das falsche Stimmideal

In Castingshows wie „DSDS Kids“ imitieren Kinder Popstars und es wird das Bild vermittelt, Kinder müssten singen können wie ihre erwachsenen Idole, sonst sei das Singen nicht „gut“ und somit nichts wert. Ganz abgesehen davon, dass bei den Kindern, die das nicht können, jegliche Freude und Motivation am Singen zunichte gemacht wird, widerspricht dieser Anspruch gänzlich der Entwicklung der Kindersingstimme.

Im Popbereich wird meist sehr bruststimmenlastig gesungen. Um trotzdem entspannt und locker zu bleiben, ist ein gehöriges Maß an Körperwahrnehmung notwendig, über das Kinder in der Regel noch nicht verfügen. Außerdem ist die Kindersinglage aufgrund der kürzeren Stimmbänder und des kleineres Kehlkopfes höher als die Erwachsenensinglage.
Der Umfang vieler Popsongs vor allem nach unten ist zu groß, so dass die meisten Kinder rein physiologisch nicht in der Lage sein dürften, den Song originalgetreu nachzusingen.

Sogar auf CDs von namhaften und erfolgreichen Kinderliedermachern sind die Lieder oft viel zu tief angestimmt, so dass den Kindern statt eines Mitsingens ein „Mitbrummen“ antrainiert wird.  Obwohl die Kinderstimme sehr belastbar ist, sind Stimmschädigungen durch zu tiefes und zu lautes Singen nicht auszuschließen.
Leider eifern die Kinder trotzdem diesem durch die Medien vermittelten Stimmideal hinterher. Das ist ja auch nur verständlich, denn erwachsene Vorbilder, die im Alltag in der Kindersinglage und in der Kopfstimme regelmäßig mit den Kindern singen, fehlen. Auch in der Werbung kann man oft genug laut schreiende Kinder sehen, denn offenbar herrscht in der Öffentlichkeit das Bild vor, dass nur laute Kinder glückliche Kinder sind – eine für die Kindersingstimme verheerende Einstellung.

Wie sollen Kinder das Singen als etwas Selbstverständliches und Freudvolles erleben, wenn sie erstens versuchen, Idolen nachzueifern, die sie aufgrund physiologischer Voraussetzungen nur sehr schwer oder gar nicht erreichen können und wenn ihnen zweitens Vorbilder fehlen, die mit ihnen freudvoll, selbstverständlich und „leichtfüßig“, eben kindgemäß, singen?

Kind beim Klavierspielen

Andere Wahrnehmungen schaffen

In der Öffentlichkeit muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Kinder keine „kleinen Erwachsenen“ sind und wir ihnen mit diesem Anspruch nicht gerecht werden. Das gilt natürlich nicht nur für das Singen, sondern für alle Lebensbereiche.
In Bezug auf das Singen plädiere ich (wie in früheren Artikeln schon betont) stark für einen höheren Stellenwert der musikalischen Ausbildung bei pädagogischen Fachkräften.
Aber auch das häusliche Musizieren sollte wieder mehr in den Fokus rücken und den Eltern vermittelt werden, dass sie durch gemeinsames Singen das Kind ganzheitlich in seiner Entwicklung unterstützen können. Und nicht nur das, auch die emotionale Bindung und die Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson wird dadurch gestärkt.

Wie wäre es denn mit einer Quizshow „Welche Familie kennt die meisten Kinderlieder?“ oder dem Format „Deutschland sucht die effektivsten In-den-Schlaf-Sänger?“

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