Ich gebe es zu. Ich freue mich immer, wenn Kollegen mich fragen, ob ich Lust hätte, sie einmal in ihrem Chor zu vertreten. Mir macht es sogar richtig Spaß. Und am Ende haben alle etwas davon.
Der Chorleiter, weil er in Urlaub fahren kann, der Chor, weil die Sänger neuen – möglicherweise ganz anderen – Input bekommen und ich sowieso.
Fremd zum neuen Chor: Was bringe ich mit?
Wenn ich ganz neu zu einem Chor komme, bereite ich mich meist gut vor. Ich lasse mir von den Kollegen erzählen, wie es im Chor so zugeht. Was ist das für ein Chor? Frauen, Männer, gemischt, Alter, Erfahrung, Schwerpunkt …
Wo liegen Schwierigkeiten, die immer wieder auftauchen und wo liegt Potenzial, das der Chorleiter vielleicht selber, z.B. weil er kein Sänger, mit populärer Musik nicht so erfahren oder einfach „betriebsblind“ geworden ist, nicht ausschöpfen kann.
Außerdem bin ich motiviert. Die neue Situation mit neuen Menschen spornt mich an, wirklich zu 100% präsent zu sein. Das gelingt mir – zugegebenermaßen – in den alltäglichen Chorproben meines eigenen Chores nicht immer. Kein Chorleiter kann immer und bei jeder einzelnen Probe voll da sein. Und das ist auch gar nicht nötig. In einer regelmäßigen Chorprobe gibt es Routinen und man kann und muss das Rad nicht immer wieder neu erfinden.
Eine gemeinsame Sprache hat sich über die Zeit entwickelt, manchmal reicht ein Fingerzeig oder ein Gesichtsausdruck, um dem Chor klar zu machen, was man will. Das hat Vor- und Nachteile.
Jede Medaille hat zwei Seiten
Und hier liegt gleichzeitig das Potenzial einer Chorvertretung. Alles ist neu, Routinearbeit findet nicht statt. Ein neuer Chorleiter mit anderen Ideen sorgt beim Chor vor allem für eines: Aufmerksamkeit. Diese, manchmal in den regulären Proben schmerzlich vermisste Neugier und Motivation, ist situationsgegeben einfach vorhanden.
Mancher Chor ist vielleicht auch reserviert und möchte nicht unbedingt von seinen Gewohnheiten abrücken, aber im Allgemeinen begegnen mir die Chorsänger sehr offen. Da ist es als Vertretung manchmal möglich, Dinge vom Chor zu verlangen oder auszuprobieren, die im Alltag fernab der Realität erscheinen.
Viele Dinge tun die Chorsänger dann zum ersten Mal und probieren fleißig aus. Da wird sich freiwillig bewegt oder zum Affen gemacht, wo die gleichen Übungen, weil altbekannt und die Abenteuerlust längst verpufft, bei meinem eigenen Chor nur für müdes Lächeln sorgen und somit ihre Wirksamkeit ein stückweit eingebüßt haben.
Dem Chor mit Highlights Freude bereiten
Natürlich hat das auch damit zu tun, dass ich mich als Chorvertretung natürlich von meiner besten Seite zeigen kann. Ich habe in der Regel genau solche Übungen im Gepäck, die unterhaltsam sind und Spaß machen. Die Highlights meiner Chorleitungserfahrung kann ich hier in geballter Ladung an den Chor bringen.
Ich kann die Übungen auswählen, die ich schon viele, viele Male erfolgreich angewendet habe. Erprobt und für gut befunden. Klar, am Liebsten würde ich das in meinen regelmäßigen Proben auch so machen, aber auch die Highlights nutzen sich irgendwann ab.
Für eine Vertretungschorprobe erscheint es mir sinnvoll, gerade auch Stücke, die z.B. schon länger im Repertoire sind oder mit denen der Chor nicht recht weiter zu kommen scheint, mit neuer Aufmerksamkeit anzuschauen. Plötzlich findet das Stück seinen Groove oder seinen Klang oder der Chor vertieft einfach sein Verständnis durch die Bearbeitung von verschiedenen Gesichtspunkten.
Vertretungsstunden im Chor sind fast ein Workshop
Im Rahmen einer normalen Chorprobe kann der Chor Neues ausprobieren. Und anders als bei einem zusätzlichen Workshop z.B. bei einem Chorwochenende, ist der Anspruch des Chores zunächst mal der Gleiche, den die Sänger an eine normale Chorprobe haben. Da kann ich als Vertretung nur gewinnen 🙂
Gleichzeitig kann man einem Chor viel Input mitgeben. Die Arbeit an bekannten Stücken gibt Sicherheit und die neuen Erfahrungen bereichern den Choralltag. Wem nicht gefällt, was die Vertretung anbietet, der weiß, dass diese eine Probe außer der Reihe auch wieder vorbeigehen wird.
Dadurch, dass der Chorleiter, der normalerweise die Fäden in der Hand hält, nicht anwesend ist, wird jedes einzelne Chormitglied in seiner Selbstverantwortung mehr gefordert. Jeder kann für sich schauen, was er mitnimmt und wo er innerlich an sein bisheriges Wissen anknüpfen kann.
Der Chor als Einheit mit Selbstverantwortung
Die Tatsache, dass der Chorleiter nicht anwesend ist, fordert den Chor auch gleichzeitig auf, sich als eine Einheit zu zeigen. Fragen wie: „Wie macht ihr das sonst? Was braucht ihr denn da bei diesem Stück? Wo hängt’s? War das jetzt anders als normalerweise?“, kann der Vertretungschorleiter nicht beantworten.
Damit geht ein Teil der Verantwortung direkt auf den Chor als Gruppe über, der vielleicht sonst manchmal ein wenig zu sehr an seinem „Chef“ klebt.
Das stärkt das sängerische und chorische Selbstwert- und Wir-Gefühl und macht zufrieden. Auch die Tatsache, dass ich z.B. kein besonders guter Begleiter am Klavier bin, hilft diesem Aspekt. Da müssen manchmal andere Lösungen als die gewohnten gefunden werden und die Verantwortlichkeit des Chores für sich selbst steigt. Neues Potenzial kann überhaupt erstmal aufgespürt und vielleicht auch in späteren Chorproben von den Chormitgliedern selbst wieder eingefordert werden.
Vertrauen ist wichtig
Damit eine Chorleitungsvertretung wirklich fruchtbar sein kann, braucht es Vertrauen auf verschiedenen Ebenen. Der eigentliche Chorleiter braucht Vertrauen in die Vertretung. Ist dieses nicht gegeben, wird auch der Chor skeptisch sein. Eine grobe Idee davon, was die Arbeitsweisen und Schwerpunkte des jeweiligen Kollegen sind, kann sicher nicht schaden.
Auch sollte mir als Vertretung klar sein, dass ich den Chor und seine Routinen zwar durchaus aufmischen kann und sollte, mich jedoch mit Respekt auf die Arbeit des Kollegen nicht zu sehr auf die „So ist es richtig und nicht anders“-Ebene zu begeben. „Ich sehe das so“ oder „Für mich ist dieses oder jenes wichtig“ oder „Lauscht doch mal hin, wie findet ihr das? Hört ihr einen Unterschied?“ sind gute und wichtige Anregungen.
Kritik am „normalen“ Chorleiter steht mir als Vertretung nicht zu, auch wenn ich Dinge ganz anders sehe.
Was nimmt der Chor von der Chorleitervertretung mit?
Nicht zuletzt ist es wünschenswert, wenn auch nicht immer organisatorisch möglich, dass beide Chorleiter sich über das, was in der Chorprobe erarbeitet und probiert wurde, im Rückblick austauschen.
Wahrscheinlich erzählen auch die Chormitglieder ihrem Leiter in einer der nächsten Proben von ihren Erlebnissen und es ist spannend zu schauen, was eigentlich bei den Menschen hängengeblieben ist und wie diese die Dinge mit ihren eigenen Worten ausdrücken. Im Sinne einer „stillen Post“ ist es jedoch auch sinnvoll, sich mit dem Kollegen direkt auszutauschen.
Denn bedauerlicherweise kann der eigentliche Chorleiter die Erfahrung, die vielleicht auch sein eigenes Repertoire erweitern könnte, ja nicht teilen. Aber manchmal ist es auch ein gutes Gefühl für den Chor, ein eigenes, kleines „Geheimnis“ zu haben. Das stärkt wiederum die Eigenverantwortlichkeit und schweißt die Chormitglieder zusammen.
In diesem Sinne wünsche ich allen Kollegen eine schöne Urlaubszeit und allen Chorsängern spannende Vertretungsproben.
Bisher hatten wir eine Vertetung nie nötig, da es so gut wie keine Ferien gab. Und selbst wenn die Frage nun in den Raum gestellt würde: wie soll ein Chor eine Vertretung finanzieren?
Na genauso, wie den anderen Chorleiter? Bei uns wird nach Stunden bezahlt.
Liebe Frau Sperling, vielen Dank für Ihren Kommentar. Wenn ein Chor keine Vertretung braucht oder möchte, auch gut. Es gibt aber immer mal Momente, wo wegen Krankheit, anderen Verpflichtungen o.ä. Proben ausfallen müssen. Diese Situation positiv zu nutzen und etwas Neues auszuprobieren, dazu möchte ich ermuntern. Wie der Chor das finanziert muss im Einzelfall natürlich besprochen werden. Für uns freiberufliche Chorleiter ist es nicht ungewöhnlich, dass wir eben nicht bezahlt werden, wenn wir Urlaub machen oder krank sind und das Honorar einfach an den vertretenden Kollegen weitergegeben wird. Wird ein Chorleiter monatlich durchbezahlt, haben er und der Chor ja vermutlich eine feste Regelung, wie mit Fehlzeiten umgegangen wird.
Herzliche Grüße,
Anna Stijohann
Interessanter Artikel, sowas würde ich auch sofort machen. Allerdings ist das als „aktiver“ Chorleiter mit mehreren Chören schwierig, da ja bei mir fast alle Abende „ausgebucht“ sind…schade eigentlich. Hier in der Gegend herrscht ein ziemlicher Mangel an Chorleitern, und ich selber wüsste auch nicht, wer mal einspringen könnte, wenn ich ausfiele…(als Konsequenz falle ich eben nie aus…).
Gibt es da eigentlich ne Art „Plattform“, wo man sowas anbieten kann?
LG
Ursula
Der fränkische Sängerbund hat in seiner Chorzeitung InTakt eine Art Schwarzes Brett wo Chöre und Chorleitungen Gesuche und Angebote einstellen können. Meist haben die Verbände auch auf ihrer Homepage solche Möglichkeiten.
Bei Facebook gibt es auch eine Gruppe für Chorleiter, in der öfter sowas geteilt wird. Seit kurzem existiert da auch noch zusätzlich die Gruppe: Chorleiter* Innen Job Börse Deutschland.